Die Sonderschaftler

Eine Spekulation im synapsalen Schwemmland der Wahrnehmung oder die Möglichkeit einer geistigen Zeitreise im Land der Ameisen.

Was ist sie schon wert, die Vorstellung, gottgleich dem Zeitfaktor der Vergänglichkeit ausbüchsen zu können? Und dies mit der Leichtigkeit einer entspannten Atmung, wohl wissend, dass sie auch in unbestimmter Zeit dienstverpflichtet unbeschwert im selben Rhythmus kraftvoll für den guten Sauerstoff in den Blutbahnen sorgen wird.

So oder so ähnlich mögen die Gedanken der Angehörigen der Verbindung sein, die man die Unbesiegbaren nennen mag. Groß in der Erscheinung gegenüber den Besiegbaren, umgeben von einem Hauch Unendlichkeit im Tiefton Schwarz, einer Singularität, unterwegs außerhalb von Zeit und Raum, sind sie doch Stoff, Substanz, Textur unserer irdischen Phantasie.

Über Jahrhunderte hinweg gab es den Versuch, diese Sonderschaft mittels Texten in Gefangenschaft zu setzen, aber selbst mit ausgeklügelten semantischen Raffinessen endete die Gefangennahme lediglich mit Worten und Bezeichnungen, festgeschrieben und gedruckt in den dafür vorgesehenen Orten unserer Bücher, die, hinterlegt in den großen und kleinen Bibliotheken, darauf warten müssen, sich durch lautes oder leises Lesen lösen zu können, um als geistiges Pendant im Kraftfeld synapsalen Gleichklangs an die Sonderschaft anzudocken.

In diesen Kreislauf sind die Sonden gesteckt, an denen ich das Experiment forcieren will: die Sonderschaft über ein abseitig gelegenes Wurmloch aufzuspüren, denn wie sollten wohl sonst gewisse Kosmologen in so ein Ding hineingestolpert sein, um uns allen von derlei Öffnungen zu berichten?

Dahin bin ich unterwegs, als Uraionaut in die Randzonen der Verständlichkeit, das synapsale Schwemmland der Wahrnehmung, da wo Nebel die Schärfe der Unterscheidung zu diffusen Gedanken einlädt, welche ein gutes Schmiermittel für Assoziationsreihen sein werden.

 

Jens Hanke


Aliens, Teletubbies und andere Wesen,
die nicht von dieser Welt sind

Jens Hankes Serie "Die Sonderschaft"

Seltsame Wesen sind das, diese "Sonderschaftler", denen Jens Hanke eine umfangreiche Serie von Bildern und Zeichnungen gewidmet hat. Nicht nur die Werke selbst betreten Neuland. Auch der Begriff, mit dem der Berliner Künstler die Sprache bereichert, erscheint gewöhnungsbedürftig. Assoziationen an "Sonderlinge" und "Botschafter" mögen sich bei vielen einstellen. Sonderbar sind sie in der Tat, diese Kunstwesen, die der exorbitanten Phantasie Hankes entspringen. Und ihr Habitus – frontal auf den Betrachter ausgerichtet, eine Habachtstellung einnehmend, den Mund oft wie zum Ausruf geöffnet – erweckt den Anschein, als wollten sie eine Botschaft verkünden. Worin diese bestehen könnte, das geben die rätselhaften Wesen nicht preis. Die "Sonderschaft", der sie angehören, ist ein Geheimbund der "Unbesiegbaren", so Hanke, eine Bruderschaft, die jenseits unserer Kategorien der Wahrnehmung agiert, ist sie doch, wie der Künstler in seinem Vorwort zu dieser neuen Serie mitteilt, "unterwegs außerhalb von Zeit und Raum". Zugleich verortet er diese Spezies im "synapsalen Schwemmland der Wahrnehmung", was das Mysterium noch mysteriöser macht.

 

Statuarische Präsenz

Konzentrieren wir uns also zunächst auf das Sichtbare. Die in einem rötlichen Ockerton gehaltenen Ölbilder und die Kohlezeichnungen, beide auf farbig grundiertem Papier, konfrontieren uns mit Gestalten, die wie eine Kreuzung aus Aliens und Teletubbies anmuten. Wesen mit beinahe statuarischer Präsenz – und dennoch irgendwie nicht von dieser Welt. Maskenhaft, signetartig in der Regel die Köpfe mit den ausgestanzten Augenhöhlen, hinterfangen von einer Gloriole aus dicht geballten Linien. Mit massivem Körper und kurzen, kompakten, breit gespreizten Beinen haben sie sich aufgepflanzt, mal solo, mal in Zweierkonstellationen. Gesteigert wird die Dynamik, die von den "Sonderschaftlern" ausgeht, durch den Bildhintergrund, den häufig eine Kaskade paralleler Linien strukturiert. Als weiteres Element, das der Komposition Spannung verleiht, fällt wiederholt ein großes X ins Auge, das die Figur wie ein Andreaskreuz hinterfängt ("Trust me, I‘m the good one here").

Dominieren bei Hankes "Sonderschaftlern" die markanten, gar zackigen Figuren – Beispiele dafür bieten die Arbeiten "The Jay and Tim Show", "Decisions were made at a much higher level", "The Networking Dudes" –, so finden sich hier und dort stillere Vertreter der "Sonderschaft"-Gattung, Figuren, die in sich gekehrt sind. Der multiperspektivisch aufgefächerten Kopfstudie "I didn't wanna leave my dream" eignet sogar ein meditativer Charakter.

 

Strom der inneren Bilder

In seiner Serie "Die Sonderschaft" kanalisiert Jens Hanke den Strom der inneren Bilder, die ihm beim Zeichnen spontan in den Sinn kommen. Obwohl er selbst alles andere als esoterisch wirkt, vielmehr sein Licht gern unter den Scheffel des Geerdeten und Pragmatischen stellt, führen seine Bilder schnurstracks in ein Labyrinth von Assoziationen. Hier begegnen dem Betrachter zudem Anklänge Richtung Science-Fiction (die Lektüre der Bücher von Stanislaw Lem hat Hanke lange nachhaltig beeinflusst), Gehirnforschung, Architektur und technische Konstruktionszeichnung. Maßgeblich bleibt dabei aber stets der originäre visuelle Impuls. Und der steckt voller Überraschungen und Irritationen. Andere denken um die Ecke. Jens Hanke, so mag man die Formulierung abwandeln, sieht um die Ecke. Und knüpft auf diese Weise an eine Forderung von Jean Dubuffet an: "Das Kunstwerk muss, wenn es sich vom konditionierten Denken befreien will, so kühn sein, ins Nicht-Denkbare vorzustoßen, so absurd es auch scheinen mag. Ganz sicher ist, dass unsere vernunftgesteuerte Auffassung in Sackgassen und Gejammer führt, also setzen wir uns über sie hinweg, gewöhnen wir unsere Lunge daran, Absurdes zu atmen."

Letztlich steht Jens Hanke in einer Tradition, die sich allemal bis zu Francisco de Goya zurückverfolgen lässt. "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer", diese Grafikserie des spanischen Malers gilt als berühmtestes Beispiel für eine Kunst, die den Kapriolen der Einbildungskraft willig folgt, die einem flüchtigen Einfall umso begeisterter Konturen auf der Bildfläche verleiht, je abseitiger er erscheint. Jens Hanke schreibt Goyas surreale "Los Caprichos"-Tradition in einer zeitgenössischen Variante fort; in Arbeiten wie "Dreaming of an outside World" und "I didn‘t wanna leave my dream" erfährt die Nachtseite der Kunst eine subtile Verkörperung. Das Träumerische, wohlgemerkt, ist hier gemeint im Sinne von Goethes "Wahlverwandtschaften"; dort heißt es an einer Stelle: "Ich glaube, der Mensch träumt nur, damit er nicht aufhöre zu sehen."

 

Präzise Träume

Der – präzise umrissene – traumversunkene Charakter der Serie "Die Sonderschaft", er artikuliert sich auch in den großen Landschaftsbildern Hankes (Öl auf Leinwand, 140 x 200 cm). Hier ist die Farbgebung allerdings weit intensiver: In kräftigen Rot-, Gelb-, Grün- und Blautönen lässt der Künstler eine Szenerie entstehen, die dadurch frappiert, dass sie das Gepräge der romantischen Landschaftsmalerei mit technisch-konstruktiven Versatzstücken paart. Wie Trümmer eines abgestürzten Flugzeugs breiten sich scharfkantige geometrische Elemente inmitten einer Naturkulisse aus. Dass man vor Hankes kristallinen Landschaften unwillkürlich an Caspar David Friedrichs Bild "Das Eismeer (Die gescheiterte Hoffnung)" denkt, kommt nicht von ungefähr. Schließlich hat der Künstler diese Inkunabel der Romantik vor Jahren in einer eigenen Ausstellung auf ihre Gegenwartstauglichkeit befragt ("CDF rekonfigured"). Von dem durch Eisschollen begrabenen Schiff, das bei Friedrich das Scheitern des Menschen symbolisiert, wird man allerdings in Hankes (menschenleeren) Landschaften keinen Nachklang finden.

"Having gotten off the road", unter diesem Motto fasst der Künstler, der eine Vorliebe für enigmatische englische Bildtitel hat, seine Landschaftsbilder zusammen. Vielleicht eine Binsenweisheit, aber deswegen nicht weniger wahr: Nur wer ausgetretene Pfade verlässt, kann Neues entdecken – selbst auf die Gefahr hin, dass er sich dabei hin und wieder verirrt. Vom rechten Weg abzukommen, bedeutet, so gesehen, eine "Conditio sine qua non" für jegliches Künstlertum. Jens Hanke erfüllt diese Bedingung allemal.


Dr. Jörg Restorff