Synapsale Nachbilder

Die Synapsalen Nachbilder von Jens Hanke sind mit einfachen, geradezu archaischen Materialien ausgeführt: Zeichenkohle auf mit Knochenleim grundiertem Papier. Die Arbeiten wirken auf den ersten Blick sachlich. Es handelt sich durchweg um lineare Gebilde, die stark räumlich wirken. Sie erscheinen wie Konstruktionszeichnungen, ohne dass aber je vermittelt würde, was denn Gegenstand der Darstellung wäre. Zum Eindruck eines ausgetüftelten Entwurfs tragen auch Radiergummispuren bei, die vorherige Varianten und Versuche durchscheinen lassen. Hier wurde scheinbar genauestens geplant, kalkuliert, verworfen und gefunden.

Zwar stellen sich beim Betrachten unwillkürlich vielfältige Assoziationen ein, die so verschiedenen Bereichen wie Technik, Biologie, Architektur, dem Alltag, Beispielen der Kunstgeschichte oder gar neuronalen Strukturen entstammen. Doch gelingt es dem Betrachter wohl nie, eine treffende Bezeichnung für das zu finden, was er sieht. Die Zeichnungen umspielen auf perfide Weise Bekanntes, ohne die plastischen Konstrukte aber je tatsächlich aus dem Gedankenbild heraustreten und benennbar werden zu lassen.

Die Formationen lassen sich zudem entweder wie monumentale Strukturen oder aber wie durch ein Rastermikroskop gesehene Elemente einer Nanowelt betrachten. Diese verunsichernde Mehrdeutigkeit basiert wohl auch auf dem fast durchgängigen Fehlen eines Horizonts, der eine notdürftige Orientierung geben würde. Der Papiergrund wirkt zuweilen als Fläche, auf der etwas liegt, in anderen Fällen aber auch als Raum, der die gleichsam schwebenden Körper umfängt oder diese sogar durchdringt. Häufig sind Negativ- und Positivformen miteinander verbunden und führen einander ad absurdum. Was anfangs rational konstruiert erscheint, entpuppt sich als virtuoses Spiel mit unserer Wahrnehmung. Der wandernde, nach Erkenntnis strebende Blick wird häufig genarrt und geneckt, das Erfahrene wird – allerdings in wesentlich subtilerer Form als bei den populären Graphiken MC Eschers – immer wieder in Frage gestellt.

Auch wenn sich die einzelnen Blätter durch extrem unterschiedlichen Bildaufbau und verschiedene "Themen" in einzelne Klassifizierungssysteme unterscheiden lassen, sind sie doch deutlich als Teile einer Serie zu verstehen, die im Miteinander unendlicher Variationen und Mutationen entsteht. Einmal gefangen in der intensiven Ausstrahlung der Werke werden die Arbeiten trotz unabänderlicher Variation nie langweilig. Sie bestechen durch schöne Linien und ein hohes Maß an Rätselhaftigkeit.

Auch die Entstehungszeit der Zeichnungen scheint schwer bestimmbar. Die gelbliche Grundierung täuscht ein ehrwürdiges Alter vor, so dass die Arbeiten auf vergangene Epochen der Kunstgeschichte (etwa des frühen 20. Jahrhunderts) verweisen, denen sie auch formal zu entsprechen scheinen – als durchaus altmodische Ausprägungen eines futuristischen Gedankens. Das Widersprüchliche und Unbenennbare der Zeichnungen erklärt denn auch den programmatischen Titel der Serie. Die Zeichnungen erscheinen ebenso unfasslich wie jene Nachbilder auf unserer Netzhaut, die bei geschlossenen Augen geisterhafte Schemen bilden, etwas Reales abbilden, aber es nicht mehr erkennbar werden lassen. Sie erscheinen als Erinnerung an etwas, was nicht mehr erinnert werden kann. Die Zeichnungen sind gleichwohl wie virtuelle Ankerpunkte in unsere auseinanderdriftende Welt gesetzt.

  Sind die Titel ein Schlüssel zum Verständnis? Und warum verwendet ein deutscher Künstler hierzu die englische Sprache? Sie bestehen zumeist aus lapidaren, teils fragmentarischen Sätzen und Satzteilen, die ebenso zufällig wie hermetisch erscheinen. Es erscheint beinahe, als seien die hier geäußerten Gedanken das eigentliche Sujet der Zeichnungen. Als vollzögen sie den Prozess des Denkens bzw. Sprechens selbst nach und illustrierten einen gedanklichen Vorgang. Die fremdsprachigen Texte resultieren aus Gedankenfetzen, die beim Zeichnen entstehen. Das Englische scheint sich dabei wie ein Filter zwischen das alltägliche Denken und den künstlerischen Prozess zu schieben.

Die Zeichnungen zeigen autonome Formen, die jedoch ohne realen Bezug zur Welt des Bildlichen auskommen. Sie sind daher Capriccios, Ausdruck von absurden, störrischen und unkontrollierten Gedanken, die sich materialisieren und nur ein Stück weit nachvollzogen werden können. Der Rest bleibt autonome Form, die für sich selbst zu existieren scheint, der aber doch ein höherer Sinn innewohnt.

 

Dr. Martin Steffens


Jens Hanke – Zeichnungen

Die Werke von Jens Hanke evozieren oftmals nachhaltige Irritationen einer sicher geglaubten Vertrautheit mit den Phänomenen des Raumes wie der Zeit. Sie beinhalten vielfältige Aspekte, die sich einem systematischen Zugang widersetzen. Widersprüchliche Raumstrukturen, nicht definierbare Körper oder einer geometrischen Logik inkommensurable Formzusammenhänge kennzeichnen insbesondere jene umfangreiche Gruppe von Zeichnungen, die Hanke unter dem übergreifenden Titel Synapsale Nachbilder zusammenfasst. Damit sind wissenschaftlich geprägte Bedeutungsfelder assoziiert, etwa der Hirn- oder Wahrnehmungsforschung, und zugleich elementare Strukturebenen unserer internen neuronalen Informationsverarbeitung benannt. Nachbilder treten zudem als schwer fassliche visuelle Nebenphänomene in Divergenz zu jenen primären Bildern, mittels derer wir eine kontingente Vorstellung der Welt generieren.

Auf den ersten Blick mag man den Blättern der Zeichnungsserie Synapsale Nachbilder ihre verstörende Wirkung nicht vollends ansehen. Eine linienhafte Bildsprache, die sich tatsächlich weitgehend dem Einsatz des Lineals verdankt, lässt mitunter an technische Konstruktionszeichnungen denken oder an geometrische Darstellungen. Das aber, was wir zu sehen bekommen, verdankt sich ganz offensichtlich nicht einen planenden konstruktiven Verfahren. Vielmehr ist es ein bildnerisches Herantasten, sind es Prozesse des Sondierens und Sedimentierens, des sukzessiven Aneinander- und Inneinanderfügens, denen sich sich eigentümlichen Lineamente Hankes verdanken. Der Künstler selbst spricht von "Gedankensplittern, von Bruchstücken, die im Gehirn 'rumgeistern' und gewissermaßen von den Rändern her in bewusstere Bereiche einsickern."

So entstehen eigenartig verwobene Konstellationen, eigenwillige Gebilde zwischen Fläche und Raum, zwischen Idee und Realität. Fluktuierende Gedankenwelten aus inneren, vielleicht auch äußeren Sphären, verdichten sich zu sichtbaren Bildern, die gleichwohl nicht Dauerhaftigkeit suggerieren, sondern genau jene flüchtigen Momente anschaulich werden, die sich unserem bewussten Zugriff auf die Wirklichkeit annähern, ohne jedoch gänzlich darin aufzugehen. Je mehr wir uns als Betrachter auf diese Blätter einlassen, umso mehr entfernten wir uns von jenen vertrauten Bereichen einer stringenten und gesicherten Welterscheinung, verlieren uns zunehmend in einem Feld offener Potentiale und Möglichkeiten.

 

Reinhard Buskies